Gedankenspiele
Handlungstechnisch hat die Serien zwar ein paar Schwächen, aber wenn die Serie gut ist, dann ist sie direkt richtig, richtig gut. Der Hauptantagonist ist ein psychisch gestörter Mann namens Kilgrave (großartigt verkörpert von David Tennant), der Menschen mittels Gedankenmanipulation dazu bringt, alles für ihn zu tun. Inklusive, sich umzubringen. Figuren, die Gedanken von anderen Menschen kontrollieren können, sind in der Literatur nichts Neues, aber selten wurde es so beklemmend und realistisch dargestellt wie bei Jessica Jones. Was in anderen Serien und Filmen oft für zweifelhaften Comic Relief sorgt, – wenn zum Beispiel eine Figur zur öffentlichen Demütigung gackernd wie ein Huhn durch die Gegend rennt -, ist hier erschreckend und abstoßend. Kilgrave hat kein Gewissen, es geht ihm nur um seinen eigenen Lustgewinn. Bei Superreichen im Penthouse einziehen? Kinder befehlen, sich im Schrank selbst einzusperren, weil er sie nicht sehen will? Er tut es, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Menschenleben sind für ihn wertlos, tatsächlich wirkt er chronisch gelangweilt. Wer alles haben kann im Leben, für den gibt es nichts Neues mehr.

Bild © Netflix
Auch Jessica stand lange unter seinem Einfluss, doch sie konnte sich von ihm befreien. Ironischerweise führt ausgerechnet das dazu, dass Kilgrave wie von ihr besessen wird: Da sie sich gegen ihn wehren kann, ist sie die einzige Frau, die sich tatsächlich in ihn verlieben könnte. Und dazu will er sie zwingen. In diesen Momenten, wenn Kilgrave damit droht, jemanden umzubringen sollte Jessica nicht bei ihm bleiben, wird er zu nichts weiter als einem erbärmlichen verschmähten Liebhaber und Stalker. Seine Methoden mögen zwar auf die Spitze getrieben sein, aber die Gründe, die ihn so gefährlich machen, sind erschreckend alltäglich. Ein vermeintlich ungerechtfertigt Verschmähter muss keine Superkräfte haben, um sich an dem Objekt der Begierde fürchterlich zu rächen. Die Folgen, mit denen die Überlebenden von Kilgraves Manipulationen leben müssen, sind entsprechend schrecklich und menschlich. Jessica lebt in ständiger Furcht und mit andauernden Albträumen. Das, was sie unter Kilgraves Einflusserlebt hat, war Vergewaltigung – sprichwörtlich und buchstäblich.
Das Erlebte hinterlässt Spuren
Ob nun durch Magi oder Gedankenmanipulation: sich die Liebe anderer Menschen einfach zu nehmen, wird in Büchern, Filmen oder Serien oft nicht wirklich als Verbrechen genommen, muss sogar oft für eine Lachnummer und ein bisschen Fremdschämen herhalten. Spätestens wenn der Zauber verfliegt, ist aber alles wieder gut. Dass es nicht so einfach ist, zeigt Jessica Jones nur allzu deutlich. Kilgraves Taten zerstören nicht nur das Leben der Protagonistin, sondern das auch von zahllosen anderen Figuren. Dabei zieht die Serie unverblümt und richtigerweise Parallelen zu häuslicher Gewalt, Vergewaltigung und Partnerschaften, aus denen es scheinbar keinen Ausweg gibt.

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In diesen Momenten ist Jessica Jones am besten: Wenn die Serie so wie ihre Hauptfigur ein kleines bisschen unbequem wird und das infrage stellt, was wir oft genug gelernt haben, in Film und Fernsehen als Sehgewohnheiten zu akzeptieren. Ein kleines bisschen den freien Willen wegnehmen, was macht das schon? In Jessica Jones sorgt es dafür, dass sich keiner der Betroffenen in seinem Leben noch irgendwie sicher fühlt. Übrigens, Jessicas Superkräfte bekommen in der Serie nicht wirklich viel Spielraum. Die Macher konzentrieren sich lieber darauf, ein Psychostück über einen zurückgewiesenen Liebhaber zu inszenieren. Einen Mann, der alleine aus dem Verständnis heraus, ungerechtfertigter Weise nicht geliebt zu werden, einer Frau das Leben zur Hölle macht. Und alleine für dieses Kunststück lohnt es sich, die Serie anzusehen.
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Kommentare von Steffi